Demonstration im Anschluss an die mündliche Urteilsverkündung in München am 11. Juli 2018

11. Juli 2018, München: Demonstration im Anschluss an die mündliche Urteilsverkündung im 1. NSU-Prozess (Foto: Robert Andreasch)

Fast zwei Jahre nach der mündlichen Urteilsverkündung, und unter vollständiger Nutzung der zulässigen Frist, hat der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts München am 21. April 2020 das schriftliche Urteil im 1. NSU-Prozess zu den Akten gegeben. Das lange erwartete Schriftstück ist 3.025 Seiten lang und begründet, warum der Strafsenat unter Manfred Götzls Vorsitz die fünf Angeklagten verurteilt hat. Der Prozess begann am 6. Mai 2013 und zog sich über 438 Prozesstage. Da noch Revisionen gegen das Urteil angekündigt sind, ist mit einem rechtskräftigen Urteil vermutlich erst 2021 zu rechnen.

Bereits die mündliche Urteilsverkündung am 11. Juli 2018 hatte für großes Aufsehen gesorgt: Einerseits wurde wenig überraschend die Angeklagte Beate Zschäpe als Mittäterin der NSU-Mord- und Bombenanschläge zu lebenslanger Haft verurteilt. Andererseits lag die 10-jährige Haftstrafe für Ralf Wohlleben deutlich unter den Forderungen der Bundesanwaltschaft. Und der Unterstützer mit dem langfristigsten und wohl auch häufigsten Kontakt zum Kerntrio André Eminger aus Zwickau wurde teilweise freigesprochen und konnte den Gerichtssaal auf freiem Fuß verlassen. Unter anwesenden Neonazis im Publikum löste der Urteilspruch damals Jubel aus. Schwerer als die Höhe der Strafe wog für die Angehörigen der Opfer jedoch die Art und Weise, wie das Gericht das Urteil begründete. Es schloss sich der Auffassung an, der NSU sei lediglich ein von der Außenwelt isoliertes Trio gewesen. Dabei hatte die jahrelange Beweisaufnahme zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Mitwirkung eines breiten Unterstützungsnetzwerkes geliefert. Doch darüber ging das Gericht schlicht hinweg. Die nun vorgelegte schriftliche Begründung bessert das nicht aus. Im Gegenteil.

Im Folgenden geben wir einen Überblick über Reaktionen und Einschätzungen zum jetzt vorgelegten Urteil.

Elif Kubaşık war Nebenklägerin im Prozess und hat eine Erklärung zum schriftlichen Urteil veröffentlicht. Darin zieht sie ein bitteres Resümee über den Prozess und kritisiert, dass die Angehörigen im Urteil mit keinem Wort erwähnt werden:

Das Urteil ist sehr lang. Aber Warum haben Sie dann nicht wenigstens aufgeschrieben, wonach Sie uns gefragt haben, was Sie von all den Zeugen, von uns und allen anderen gehört haben, was diese Morde mit uns und unseren Familien angerichtet haben? Warum haben Sie nicht das aufgeschrieben, was herausgekommen ist über die vielen Helfer dieser Gruppe, was herausgekommen ist darüber, wer alles über diese drei Leute Bescheid wusste, wie nah der Staat ihnen war? Warum haben Sie nicht aufgeschrieben, dass man nicht die ganze Wahrheit finden kann, wenn Akten zerstört werden, wenn Zeugen lügen. Die Gerechtigkeit, die ich uns gegenüber erhofft hatte, hat das Urteil nicht gebracht. Es ist, als ob Mehmet nur eine Nummer für Sie gewesen ist, als ob es unsere Fragen nicht gegeben hätte.

In einem Statement von 19 Rechtsanwält:innen, die im Verfahren Nebenkläger:innen begleitet und vertreten haben, werden die zahlreichen Lücken und Fehlstellen im Urteil kritisiert:

 Die jetzt vorgelegten schriftlichen Urteilsgründe, die die immer gleichen Satzfolgen wiederholen, sind auf 3.025 Seiten eine Fortschreibung dieser Missachtung des Gerichts gegenüber den Opfern des NSU. […] Das Urteil gibt noch nicht einmal das ansatzweise wieder, was durch die Beweisaufnahme ans Licht gebracht wurde. Es hat die Ergebnisse der fünfjährigen Beweisaufnahme bis zur Unkenntlichkeit verkürzt oder dreist verschwiegen. […] Es ist ein Mahnmal des Versagens des Rechtsstaats, der die Angehörigen der NSU-Mordopfer über Jahre erst kriminalisierte und nun endgültig im Stich gelassen hat.

Auf Spiegel-Online erklärt Wiebke Ramm in einem Artikel, wie das Gericht die Rolle von Beate Zschäpe bewertet:

Die Richter meinen dennoch nachweisen zu können, dass Zschäpe bei allen Morden und Anschlägen als Mittäterin mitgewirkt hat. Allen drei NSU-Mitgliedern sei „die überragende Wichtigkeit“ von Zschäpes Tatbeiträgen für die Terrorserie bewusst gewesen, heißt es gleich 21-mal im Urteil. Ihre Tatbeiträge seien „geradezu Bedingung“ dafür gewesen, „dass die jeweiligen Taten überhaupt begangen werden konnten“.

Interessant, so die Autorin weiter, sei aber eben auch das, was nicht im Urteil steht:

Das Wort „Verfassungsschutz“ findet sich auf den 3025 Seiten kein einziges Mal. Dass V-Leute gleich mehrerer Verfassungsschutzämter zum Teil engen Kontakt zu Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt hatten, ist für den Senat für die Tat- und Schuldfrage offensichtlich vollkommen irrelevant. […] Keine Erwähnung wert ist den Richtern auch Andreas Temme. Temme war Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes. Als Halit Yozgat am 6. April 2006 in seinem Internetcafé in Kassel vom NSU ermordet wurde, war Temme am Tatort. Von der Tat will er nichts mitbekommen haben. Zwischenzeitlich wurde gegen ihn wegen Mordes ermittelt. Im Urteil steht zu Temme: nichts. Dabei wurde Temme an gleich mehreren Tagen vor Gericht befragt.

In der Süddeutschen Zeitung wirft Annette Ramelsberger einen genauen Blick auf den Teilfreispruch des Zwickauer Angeklagten André Emminger, der sich auch im Prozess als überzeugter Neonazi präsentierte. Offenbar, so die Autorin, sehe das Gericht in ihm nur jemanden, der 13 Jahre neben den drei NSU-Mördern „hertrottete“:

Die Erklärung des Gerichts: André E. hatte einfach keine Veranlassung, seinen Freunden die Frage zu stellen, was sie so machen den ganzen Tag. Denn anfangs habe er die drei nicht wirklich gut gekannt – obwohl er ihnen unter seinem Namen eine Wohnung angemietet hatte, obwohl er für sie Einkäufe machte, obwohl er den beiden Männern seine Krankenkassenkarte zur Verfügung stellte, obwohl er dreimal für sie ein Wohnmobil anmietete, mit dem sie dann zu Überfällen und einem Sprengstoffanschlag fuhren. Und obwohl sie in ihrer Ideologie übereinstimmten und kein Blatt vor den Mund nehmen mussten. […] Und der Ausländerhass, in dem sich die Kameraden ständig ergingen? Auch der kein Grund zu fragen, ob es die drei vielleicht todernst meinten? André E. sei „nur die verbal geäußerte Ausländerfeindlichkeit der drei Personen geläufig“ gewesen, schreibt das Gericht. „Der Schluss, von diesen Äußerungen auf deren Bereitschaft, ihre Ausländerfeindlichkeit in die Tat umzusetzen und Menschen aus ausländerfeindlich-rassistischen Motiven zu töten, liegt fern und wurde vom Angeklagten E. daher auch nicht gezogen.“ Das Gericht spricht von dem Mann, der auf seinem Bauch den Wunsch tätowiert hat, Juden zu töten, und auf seinem Computer ein Handbuch für den Rassenkrieg hatte.

Die Konsequenzen aus dieser Begründung fasst Konrad Litschko in der taz treffend zusammen:

Haben die Ausführungen des Gerichts zu Eminger Bestand, sind weitere Anklagen gegen NSU-Unterstützer wohl vom Tisch. Denn wenn nicht mal der langjährigste und engste Helfer als Mitwisser verurteilt werden kann, wie soll dies erst bei anderen gelingen? Opferanwälte nennen in einer Erklärung deshalb „die Frage, wie es mit der Revision der Bundesanwaltschaft weitergeht, die spannendste und wichtigste“.

Ein Monat Zeit haben Bundesanwaltschaft und die Verteidiger:innen Revisionsgründe gegen das Urteil zu verfassen. Insbesondere vom Verhalten der Bundesanwaltschaft hängt ab, ob dieses Urteil ein juristischer Schlussstrich sein wird, oder nicht. Nach wie vor ermittelt sie gegen weitere neun mutmaßliche NSU-Unterstützer:innen. Ob diese noch angeklagt werden, entscheidet sich auch in diesen Tagen.

Das Projekt NSU-Watch weist in einem Statement auf den fortgesetzten rechten Terror in der Zeit zwischen Urteilsverkündung und schriftlichem Urteil in Deutschland hin und zieht eine Verbindung zum Prozessgeschehen in München:

Zum Mord an Walter Lübcke, zu den Morden in Halle und zu den Morden in Hanau konnte es auch kommen, weil vom NSU-Prozess kein Zeichen der Aufklärung, kein Zeichen des Drucks auf die terroraffine Neonaziszene ausgesendet wurde. Die Gefahr des rechten Terrors bleibt bestehen.

Und es bleibt eine gesellschaftliche Aufgabe sich diesem rechten Terror zu stellen und alles zu seiner Zurückdrängung zu tun. Denn bei aller Enttäuschung über das Urteil hat Elif Kubaşık auch deutlich gemacht:

Die Hoffnung, Antworten zu erhalten, habe ich trotz allem und trotz Ihnen nicht ganz aufgegeben. Es gibt zu viele Menschen, die um die Wahrheit kämpfen, die dafür sorgen, dass Mehmet und all die anderen Opfer nicht vergessen werden.

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