Želimir Žilnik (*1942, Jugoslawien) ist ein Künstler-Filmemacher aus Novi Sad, Serbien. In seiner äußerst produktiven Karriere hat Žilnik über 50 Spiel- und Kurzfilme gedreht, die international auf Filmfestivals wie Berlin, Toronto, Rotterdam, Moskau und Oberhausen ausgestellt wurden. Seine sozial engagierten Filme im ehemaligen Jugoslawien brachten ihm ab den späten 60er Jahren Anerkennung, aber auch Zensur in den 70er und 90er Jahren für seine schonungslose Kritik am Regierungsapparat ein. Wie ein roter Faden zieht sich seine Beobachtungsgabe durch sein Werk, mit der er aus dem Leben der einfachen Menschen fesselnde Erzählungen hervorzaubert.

1975 entsteht der Film Inventur – Metzstraße 11 im Treppenhaus eines Wohnhauses in München. Der Filmemacher Želimir Žilnik kam wie viele der porträtieren Bewohner:innen als sogenannter Gastarbeiter ins Nachkriegsdeutschland, um für den Aufschwung der Wirtschaft zu arbeiten. Vor die Kamera getreten, stellen sie sich vor, berichten über ihre Herkunft, wie auch über ihre finanzielle und soziale Situation in Deutschland. Das Treppenhaus, das oft nach kurzem Gruß schnell verlassen wird, transformiert Želimir Žilnik zu einem Ort der Begegnung.

Die in Berlin lebende Künstlerin und Dozentin Pınar Öğrenci (1973, Van, Türkei) hat einen architektonischen Hintergrund, der ihre poetischen und erfahrungsbasierten videobasierten Arbeiten und Installationen prägt, die Spuren von „materieller Kultur“ im Zusammenhang mit erzwungener Vertreibung in verschiedenen Geografien sammeln. Ihre Arbeiten sind dekoloniale und feministische Lesarten aus den Überschneidungen von sozialer, politischer und anthropologischer Forschung, Alltagspraktiken und menschlichen Geschichten, die den Agenten der Migration wie Krieg, staatlicher Gewalt, kollektiven Bewegungen sowie industriellen und urbanen Entwicklungsprojekten folgen.

Ihre Arbeit Inventur 2021 für die Ausstellung Offener Prozess ist die Neufassung eines Films, der ursprünglich 1975 vom jugoslawischen Black-Wave-Regisseur Želimir Žilnik in München gedreht wurde. Das Remake von Pınar Öğrenci spielt in der ostdeutschen Stadt Chemnitz und basiert auf den täglichen Kampf gegen Rassismus der dort lebenden Menschen. Im Gegensatz zum Original, in dem Gastarbeiter:innen aus dem europäischen Süden die Treppe ihres Hauses hinabsteigen, gehen in Öğrencis Remake Personen, meist aus dem Nahen Osten und Asien, die Treppe hinauf und Deutschland wird nicht als vorübergehende, sondern als dauerhafte “Heimat” für Migrant:innen dargestellt.

Nguyễn Phương Thanh wurde 1992 als Kind vietnamesischer Vertragsarbeiter:innen in Werdau (Sachsen) geboren. 2013 zog sie für ihr Kommunikationsdesign-Studium nach Berlin. Sie arbeitete beim Superior Magazin, bei Vice und zuletzt bei Coup Mobility. 2017 gründete sie zusammen mit Freund:innen den Verein W.I.R. Werdauer Initiative gegen Rassismus, mit der sie jährlich Projekte in Werdau veranstalten. 2018 feierte ihr Kurzfilm Sorge 87 seine Weltpremiere auf der DOK Leipzig und wurde auf über 20 Filmfestivals und Panels national und international gezeigt.

Sorge 87 ist ein mehrteiliges Projekt von Thanh Nguyen Phuong. Im Film, der in der Ausstellung zu sehen ist, zeichnet sie die Migrationsgeschichte ihrer Eltern nach, die 1987 in die DDR gekommen sind. Sie arbeiteten wie viele der vietnamesischen Vertragsarbeiter:innen in der Textilindustrie. Die Filmemacherin verwebt in ihrem Film die Erinnerungen und Anekdoten ihrer Eltern und deren Freund:innen. Mit Zeichnungen und Drucken auf Stoff illustriert sie den Arbeits- und Lebensalltag. Ergänzend zum Film findet sich online eine umfangreiche Web-Dokumentation mit weiterem Material aus dem Rechercheprozess.

Mareike Bernien und Alex Gerbaulet leben und arbeiten als Künstler:in und Filmemacher:in in Berlin. In ihrer Praxis teilen sie Gemeinsamkeiten, indem sie oft von Objekten oder Orten ausgehen und sich für die gesellschaftspolitischen Formationen und Konflikte darin interessieren. Seit 2015 arbeiten sie gemeinsam an verschiedenen Projekten, wie dem Kurzfilm Depth of Field (2017) oder dem Film- und Online-Projekt Spots (2017). Außerdem sind sie seit mehreren Jahren Teil der Produktionsplattform pong film in Berlin. Seit 2020 sind sie Teil des Berliner Künstlerischen Forschungsförderungsprogramms.

Der Film Tiefenschärfe von Mareike Bernien und Alex Gerbaulet untersucht die Nürnberger Tatorte und ihre Umgebungen. Hier ermordete der Enver Şimşek am Blumenstand (2000), Abdurrahim Özüdoğru in einer Schneiderei (2001) und İsmail Yaşar in seinem Imbiss (2005). Die Kamera zeigt und umkreist die oft unscheinbar wirkenden Tatorte. Es sind Straßen, Kreuzungen, Unterführungen, Schulhöfe – Orte des öffentlichen Lebens. Der Film geht dabei der Frage nach, wie sich die Taten auf ihre Umgebung auswirken und wie die Umgebung auf die Taten reagiert.

İmran Ayata ist Autor, Musiker und Aktivist. Er schrieb zwei Romane (Mein Name ist Revolution, Ruhm und Ruin), Kurzgeschichten und Artikel für diverse deutsche Zeitungen und Magazine. Er ist als DJ tätig und gab mit Bülent Kullukcu im Oktober 2013 die CD Songs of Gastarbeiter Vol. 1 bei Trikont heraus. Er ist Politikwissenschaftler und arbeitet bei der Agentur Ballhaus West. Er ist Mitgünder und Aktivist bei Kanak Attak und engagierte sich in der Initiative FreeDeniz, die sich für die Freilassung Deniz Yücels’ und anderer politischer Gefangener aus dem türkischen Gefängnis einsetzte.

Bülent Kullukcu ist Regisseur, Bildender Künstler, Komponist, Galerist und Kurator. Er arbeitet im Feld interkultureller Kunst, realisierte zahlreiche Musik-, Theater- und Performanceprojekte. Kullukcu schuf Filmmusik und Hörspiele (u.a. für BR, WDR), zahlreiche Soundinstallationen für Museen sowie viele Vinyl und CD Releases auf diversen Labels weltweit. Gemeinsam mit dem Autor İmran Ayata gab er im Oktober 2013 die CD Songs of Gastarbeiter Vol. 1 bei Trikont heraus.

Songs of Gastarbeiter wurde von AYKU (İmran Ayata und Bülent Kullukcu) zusammengestellt. Die Kompilation umfasst Lieder unterschiedlicher Interpret:innen mehrerer Generation der sogenannten Gastarbeiter:innen. Das Projekt wurde 2013 auf dem Musiklabel Trikont veröffentlicht. Die Songs erzählen vom Leben in Deutschland, von Arbeitsbedingungen und zwischenmenschlichen Erfahrungen. Viele der Lieder waren vor der Veröffentlichung der Kompilation nicht mehr auf Tonträgern zugänglich und wurden aus unterschiedlichen Archiven zusammengetragen.

Vincent Bababoutilabo ist ein in Berlin und Leipzig lebender Musiker, Autor und Aktivist an der Schnittstelle zwischen Kunst und Politik. In seinen künstlerischen Projekten versucht er meist, beide Bereiche miteinander zu verbinden. In den letzten Jahren fokussierte seine Arbeit insbesondere die Bereiche Migration, Flucht, Dekolonisierung, Ausbeutung und Widerständigkeit sowie die künstlerische Suche nach positiven Visionen für eine gerechte Gesellschaft, in der wir alle ohne Angst verschieden sein können.

Die Songs of Vertragsarbeit sind Musik von verschiedenen Künstler:innen, die als Vertragsarbeiter:innen in die DDR kamen. Ihre Stücke sind – wie ihre künstlerischen Herangehensweisen und ihre Biografien – sehr unterschiedlich. Sie verbindet jedoch, dass in ihnen die Geschichten von Menschen hörbar werden, die einzigartige Perspektiven auf die damalige gesellschaftliche Lage haben. Die musizierenden Chronist:innen einer bewegten Zeit schaffen eine musikalische Collage, die ihre Leben, Träume und Hoffnungen hör- und fühlbar macht.

Harun Farocki (1944-2014), geboren in der damaligen Tschechoslowakei, war Filmemacher, Künstler und Autor. Er lehrte als Professor an der Akademie für Bildende Künste Wien und arbeitete gemeinsam mit Antje Ehmann unter anderem an dem Film Aufstellung.

Antje Ehmann ist Kuratorin und Videokünstlerin. Sie studierte Literatur- und Medienwissenschaften sowie Philosophie. Gemeinsam mit Harun Farocki realisierte sie viele Ausstellungen und Filme.

Der Stummfilm Aufstellung von Harun Farocki und Antje Ehmann aus dem Jahr 2005 besteht aus Ausschnitten und Fragmenten. Sie stammen von Bildern, Grafiken, Piktogrammen und statistischen Darstellungen. Die Bilder begegnen uns in ihrer Nüchternheit in Lehrbüchern, Zeitungen und Mitteilungen von Behörden zum Thema Migration und Zuwanderung. Durch die Montage dieser zunächst neutral wirkenden Informationen in den gezeigten Abbildungen entsteht ein Subtext. Dieser zeigt die eindimensionale und visuelle Gewalt dieser Bilder mit ihrer rassifizierenden, klischeehaften Repräsentation.

belit sağ ist eine in Amsterdam lebende Videomacherin und bildende Künstlerin. Sie studierte Mathematik in der Türkei und bildende Kunst in den Niederlanden. Ihr Hintergrund im Bereich der bewegten Bilder wurzelt in ihrer Arbeit innerhalb videoaktivistischer Gruppen in der Türkei, wo sie Gruppen wie VideA, karahaber und bak.ma mitinitiiert hat. Ihre laufende künstlerische und Bewegtbild-Praxis konzentriert sich auf die Rolle von (visuellen) Repräsentationen von Gewalt in der Erfahrung und Wahrnehmung von politischen Konflikten in der Türkei, Deutschland und den Niederlanden. Ihre Videoarbeiten werden von LIMA vertrieben.

Was kann das Foto eines Opfers aus der Polizeiakte uns erzählen? Dieser Frage widmet sich der Film cut-out von belit sağ. Der Film richtet einen genauen Blick auf die Fotos der ermordeten Ehemänner, Söhne, Brüder, die von den trauernden Angehörigen an die Ermittler:innen gegeben wurden. belit sağ kommentiert die Bearbeitungsformen der einzelnen Bilder und heftet andere Narrative an die Bilder. Auf diese Weise sehen wir, was uns gezeigt wurde, was wir sehen sollten und auch was wir stattdessen sehen könnten. Das Nachdenken darüber, was wir sehen könnten, eröffnet zugleich einen Raum der Möglichkeiten. Und in diesem Raum sind vielleicht andere Formen des Zusammenlebens und der emphatischen Verbindungen miteinander möglich.

Hito Steyerl ist Experimentalfilmerin und Videokünstlerin. Sie studierte in Tokyo und München Kinematographie und Dokumentarfilmregie und promovierte mit einer philosophischen Arbeit in Wien. Ihr Forschungsinteresse gilt den Medien, der Technologie und der Verbreitung von Bildern. In ihren Texten, Performances und essayistischen Dokumentarfilmen setzt sie sich zudem mit postkolonialer Kritik und feministischer Repräsentationslogik auseinander. Dabei arbeitet sie an der Schnittstelle von bildender Kunst und Film sowie von Theorie und Praxis.

Babenhausen ist ein Film, der für sich selbst spricht. Die Video-Arbeit von Hito Steyerl aus dem Jahr 1997 eröffnet mit dem Zitat: „Angesichts dieser Bilder sind wir der Meinung, dass kein Redebeitrag imstande sein wird, das wiederzugeben, was hier abgegangen ist.“ Die Stimme im Film erzählt von der antisemitischen Gewalt und ihrer kontinuierlichen Geschichte in Babenhausen. Am Ende blicken wir auf das ausgebrannte Haus der jüdischen Familie Merin nach dem Brandanschlag 1997. Es wird als ein Mahnmal in der hessischen Kleinstadt stehen bleiben.

Dokumentiert wurde der Verlauf der Trauerdemonstration Kein 10. Opfer von mehreren Kameraleuten, unter anderem von Sefa Defterli, der aus dem gesamten Material für eine filmische Dokumentation und somit für ein wichtiges Zeugnis dieser Kundgebung sorgte. Das Video in dieser Ausstellung ist ein Ausschnitt daraus.

Die Demonstration Kein 10. Opfer wurde von den Familien und Freund:innen der NSU-Opfer organisiert. Sie fand am 6. Mai 2006 in Kassel und im Juni 2006 in Dortmund statt. Kurz zuvor wurden Halit Yozgat am 6. April 2006 und Mehmet Kubaşık am 4. April 2006 ermordet. In Kassel führte die Route aus der Nähe des Internet-Cafés der Familie Yozgat zum Kasseler Rathaus. Mit den Transparenten und in Redebeiträgen forderten die rund 4000 Teilnehmer:innen die Politik und die Öffentlichkeit auf, die rassistischen Muster hinter den Taten zu erkennen und nach den Täter:innen zu suchen.

Forensic Architecture ist ein Forschungsinstitut mit Sitz an der Goldsmiths University in London. Sie untersuchen Menschenrechtsverletzungen, die von Staaten, Polizeikräften, Militärs oder Unternehmen begangen wurden. Diese Untersuchungen werden von zivilgesellschaftlichen Gruppen oder Institutionen in Auftrag gegeben und sind häufig eine Gegen-Untersuchung zu Berichten oder Aussagen offizieller Stellen. Sie haben in 77sqm_9:26min die Aussagen des Verfassungsschützers Andreas Temme zum Mord an Halit Yozgat untersucht.

Forensic Architecture wurde vom Tribunal NSU-Komplex auflösen beauftragt, die Zeugenaussage des Verfassungsschützers Andreas Temme zum Mord an Halit Yozgat zu überprüfen. Die Familie von Halit Yozgat fordert seit Jahren, den klaffenden Widersprüche in seinen Aussagen nachzugehen. 77sqm_9:26min ist eine Rekonstruktion der Aussage Temmes zum Tathergang am 6. April 2006 und untermauert die Zweifel an Temmes Version der Geschichte. Die Arbeit wirft die Frage auf, warum Ermittlungsbehörden und Gerichte diesen Widersprüchen nicht nachgehen, und was zivilgesellschaftliche Interventionen zur Aufklärung des NSU-Komplexes beitragen können.

Am 12. August 1979 starben Raúl Garcia Paret und Delfin Guerra in Merseburg bei einer rassistischen Hetzjagd. Anlässlich ihres 40. Todestages gründete sich 2019 die Initiative 12. August und veranstaltete zum ersten Mal ein öffentliches Gedenken. Die Initiative setzt sich mit dem Rassismus und der rassistischen Gewalt in der DDR auseinander. Sie fordert eine gesamtgesellschaftliche und juristische Aufarbeitung aller rassistischen Morde in der DDR. Rassismus muss benannt und das Schweigen durchbrochen werden. Darüber hinaus setzt sie sich für eine Entschädigung der Familien der Opfer und ehemaliger Vertragsarbeiter:innen in der DDR ein.

Die Initiative BREAK THE SILENCE – In Gedenken an Oury Jalloh wurde von Hinterbliebenen in Reaktion auf den Mord an Oury Jalloh gegründet. Am 7. Januar 2005 verbrannte Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle. Die Umstände seines Todes sind bis heute ungeklärt. Der sogenannte Rechtstaat ist nicht Willens, die Tat aufzuklären und angemessene Konsequenzen zu ziehen. Die Initiative klärt über Täter:innenschaft und Hintergründe im Oury Jalloh-Komplex auf und übernimmt damit die Aufgabe des Staates und der sogenannten Sicherheitsbehörden. Darüber hinaus beschäftigt sie sich mit Rassismus und Polizeigewalt und unterstützt Betroffene.

Die SPOTS sind eine Reihe von audiovisuellen Interventionen zu Facetten des NSU-Komplexes. Die Reihe wurde kollektiv für das Tribunal NSU-Komplex auflösen in Köln im Jahr 2017 entwickelt. Sie thematisieren die blinden Flecken in der Aufarbeitung des NSU-Komplexes. Sie werfen Schlaglichter auf die rassistischen Verhältnisse, welche rechte Netzwerke und deren Taten erst möglich machen.

Der Spot Was würden Nazis niemals tun? thematisiert die Wahrnehmungswelt der Mehrheitsgesellschaft und wie sich Nazis in ihr ungestört bewegen können. Der Spot Wo geht es zur Halitstraße? thematisiert die Forderung der Umbenennung der Holländischen Straße in Halitstraße. Hier wurde Halit Yozgat geboren und getötet. Die Stadt sperrt sich gegen die Umbenennung. Die Halitstraße ist Teil eines umkämpften Gedenkens, das im NSU-Komplex an vielen Orten deutlich wird.

Anne König lebt als Verlegerin und Autorin in Leipzig. Zusammen mit Markus Dreßen und Jan Wenzel gründete sie 2001 den Verlag Spector Books. Im Jahr 2016 co-kuratierte sie gemeinsam mit Jan Wenzel (2016/2018) das 7. und 8. Festival für Fotografie f/stop Leipzig. 2019 erschien Bruchlinien. Drei Episoden zum NSU gemeinsam mit Nino Paula Bulling sowie I Seem to Live – The New York Diaries, 1950-1969, Vol. 1 von Jonas Mekas. Zur Zeit arbeitet sie mit Anselm Graubner an dem Fotoband Der kurze Winter der Anarchie – Weimar 1989/90.

Nino Paula Bulling zeichnet Comics schreibt Texte. Nino studierte an der Kunsthochschule Halle und publizierte seit dem Debut 2012 zahlreiche kürzere und längere Bilderzählungen. Ninos letztes Buch, Bruchlinien, erschien 2019 in Zusammenarbeit mit Anne König bei Spector Books.

Der NSU-Prozess lässt wie unter einem Brennglas Bruchlinien sichtbar werden, die sich durch Deutschland ziehen. Das Buch Bruchlinien, mit Zeichnungen von Nino Bulling und Texten von Anne König, rekonstruiert drei Episoden, die im fünfjährigen Gerichtsprozess unter den Tisch gefallen sind. Die Episoden handeln von den Erfahrungen von Gamze Kubaşık, der Tochter des ermordeten Mehmet Kubaşık, von Susann Eminger, einer Unterstützerin des NSU, und von einer Mitarbeiterin des Verfassungsschutzes, die mit der Vernichtung der NSU-Akten beauftragt war. Ergänzt werden die Bildgeschichten durch verschiedene Interviews. Das Buch ist auch in der Library der Ausstellung verfügbar.

Ulf Aminde verhandelt in seinen Produktionen die Beziehung zwischen Sozialen Bewegungen, Kollektiven Erinnerungen und Widerstand. Seine Arbeiten bewegen sich dabei häufig im öffentlichen Raum und werden dort auch oft gezeigt. Seine filmischen Arbeiten zeichnen sich meist durch Kollaborationen mit den Protagonist:innen und experimentelle Settings aus. In Köln entwickelt er ein filmisches und durch den Einsatz von Augmented Reality auch partizipatives Mahnmal zur Erinnerung an die rassistischen Anschläge des Terrornetzwerks in der Probsteigasse 2001 und Keupstraße 2004.

Herkesin Meydanı gründete sich im Herbst 2019 und tritt für die Errichtung eines geplanten Mahnmals in der Kölner Keupstraße ein. Es soll an die rassistischen Terroranschläge des NSU in Köln erinnern. Das Mahnmal wird ein Forum für migrantisch situiertes Wissen, ein Ort für Begegnung und Gedenken sein. Allerdings blockiert eine Investor*innengruppe den Platz und die Kölner Politik bleibt untätig. Es zeigt sich der strukturelle Rassismus einer Stadt, die bis heute kein Ort des Gedenkens an die Opfer des NSU hat. Die Initiative fordert deshalb einen öffentlichen Platz am Eingang der Keupstraße – den Herkesin Meydanı – Platz für alle.

Der Platz für Alle – Herkesin Meydanı ist das geplante Denkmal für die Opfer des Nagelbombenanschlags des NSU in der Kölner Probsteigasse und der Keupstraße. Es soll in der Platzmitte eine Kopie der Bodenplatte des Ladengeschäfts entstehen, vor dem in ca. 50 Metern Entfernung die Bombe platziert wurde. Mittels einer Augmented Reality-App für Smartphones entsteht über der Platte ein virtuelles Haus aus einer Vielzahl von Filmen, die sich mit Rassismuserfahrungen auseinandersetzen. Durch den Verkauf des zentralen Grundstücks an einen Privatinvestor hat die Stadt Köln den Bau des Denkmals aktiv erschwert.

Offener Prozess ist ein Projekt des ASA-FF e.V. zur Aufarbeitung des NSU-Komplex mit Schwerpunkt in Sachsen. Im Projekt werden Bildungsfahrten, Forschungsprojekte, Critical Walks in Chemnitz, schulische Lehrmaterialien, Filme mit Betroffenen rechter Gewalt und die Ausstellung Offener Prozess realisiert. Das Projekt ist das Nachfolgeprojekt des Theatertreffens Unentdeckte Nachbarn und wird seit 2019 von Hannah Zimmermann geleitet.

Jörg Buschmann studierte Politikwissenschaft an der TU Dresden und der Universität Leipzig. Für die Beratungsstellen für Betroffene rechtsmotivierter Gewalt in Sachsen dokumentierte er von 2017 bis 2018 den Prozess gegen die rechtsterroristische Gruppe Freital. Er arbeitete seit 2019 für das Projekt Offener Prozess.

Die Critical Map ist eine interaktive Karte, die in die jeweiligen Städte, die zu Tatorten des NSU wurden, reinzoomt. Die Karte ist im Projekt Offener Prozess entstanden und wird im Laufe der Wanderausstellung an die Leihorte angepasst. Sie zeichnet die sozialräumlichen Verbindungslinien des NSU-Komplex in den jeweiligen Städten nach.

Die dokumentarischen Filme şahîd – nhân chứng – whitnesses erzählen die Geschichten von Menschen in Sachsen, die Opfer des NSU und rechter Gewalt wurden. Es sind Geschichten von ehemaligen Vertragsarbeiter:innen und deren Kindern, von Punks, die ihre Jugend in der Nachwendezeit in Chemnitz #CHE verbrachten und von Zufallsopfern, die nur mit Glück ihre Geschichte heute noch erzählen können. Als Zeug:innen geben sie Einblick in das Leben in einer Gesellschaft und Region, in welcher der NSU unentdeckt leben und wirken konnte. Die Filme wurden im Rahmen des Projekts Offener Prozess unter der Regie von Hannah Zimmermann und mit dem Filmteam Red Tower Films entwickelt.

Theo Treihse hat in Dresden Politik und Geschichte auf Lehramt studiert und arbeitet im Bereich der außerschulischen politischen Bildung im Bildungskollektiv Educat. Sowohl im beruflichen als auch aktivistischen Bereich beschäftigt er sich unter anderem mit dem NSU Komplex. Er führte das Seminar #doing memory 2019/20 an der TU Chemnitz als Co-Dozent durch.

Irène Mélix ist Künstlerin und Kulturwissenschaftlerin. Sie hat in Dresden/Kraków und Hildesheim/Paris studiert und arbeitet in Überschneidungsbereichen politischer und ästhetischer Fragen. Momentan promoviert sie an der Bauhaus Universität in Weimar und lebt in Dresden. Sie hat die Ausstellungsproduktion für diese Ausstellung gemacht.

Im Rahmen des Seminars doing memory – Historische Sozialraumerkundungen und Erinnerungsarbeit im ehemaligen Fritz-Heckert-Gebiet an der TU Chemnitz haben sich Studierende zusammen mit der Künstlerin Irène Mélix und den Dozent:innen Theo Treihse und Hannah Zimmermann mit der Geschichte des Fritz-Heckert-Gebiets, der stadträumlichen Entwicklung und den NSU-Bezügen im Viertel auseinandergesetzt. Als Ergebnis des Seminars entstand eine Neuauflage des 1998 einmalig als Ausgabe 0 erschienenen Stadtteilmagazins FRITZ. Das Magazin ist eine sozialräumliche Spurensuche und eine erinnerungspolitische Intervention im Stadtteil.

Die Library bildet als Teil der Ausstellung einen Recherche- und Versammlungsraum. Hier finden sich diverse Publikationen, autobiografische Bücher, Graphic Novels und Zeitschriften rund um das Thema NSU-Komplex. Im Sinne der Ausstellung wird die Konzentration auf marginalisierte Perspektiven fortgeführt und ein Überblick über die bisherige Aufarbeitungsarbeit gegeben. Damit stellt sich die Library gegen die von Behörden und Geheimdiensten ausgehende Aktenvernichtung und Ignoranz gegenüber migrantisch situiertem Wissen im NSU-Komplex und wird zum Ort aktiver, demokratischer Erinnerungskultur. Eine Einladung zum Verweilen, Reflektieren und Erinnern.

Im NSU-Komplex verdichten sich auf vielfältige Art und Weise der unzureichende Umgang der Gesellschaft mit rechter Gewalt und rechtsterroristischen Strukturen. Um diesen Umgang zu verändern, braucht es einen Ort, an dem Erkenntnisse und Erfahrungen gesammelt, aufbereitet, vermittelt und diskutiert werden. Es braucht einen Ort des „lebendigen Erinnerns“, der Platz für die Betroffenen rechtsmotivierter Gewalt und ihre Perspektiven schafft. Aufgabe des Dokumentationszentrums ist es, der Gesellschaft zu helfen, diskriminierende Praxen dauerhaft zu verlernen. Es ist ein Ort, der noch zu schaffen ist.

Ülkü Süngün ist bildende Künstlerin und Art Aktivistin. Mit Fotografie, Installationen, Video und Performances setzt sie sich kritisch mit Migrations- und Identitätspolitiken sowie Erinnerung auseinander. Mit ihrem Langzeitprojekt Institut für Künstlerische Migrationsforschung ist sie zur Zeit Atelierstipendiatin im Künstlerhaus Stuttgart. Im zeitraumexit in Mannheim realisierte sie 2019 ihr künstlerisches Forschungsprojekt Gemeingut Jungbusch zu den Funktionen von Migration und Kultureinrichtungen im Kontext der Gentrifizierung.

Im Zentrum der Performance TAKDIR. DIE ANERKENNUNG von Ülkü Süngün steht die richtige Aussprache der Namen der zehn Opfer des NSU – die Basis für eine angemessene Anerkennung der Opfer. In einem partizipativen Rahmen bringt die Künstlerin interessierten Teilnehmenden im direkten Gespräch die korrekte Aussprache der Namen bei. Die Performance findet zu ausgewählten Terminen statt. Während der Dauer der Ausstellung lässt sich die Performance und Aussprache über einen Film nachvollziehen.

Schilder wollen bei Protesten eine andere Wirklichkeit erstreiten und haben eine eigene, performativ handelnde Rolle. So auch in der Ausstellung. Die Protestschilder verbinden und transportieren Wissen, Analysen und kollektive Forderungen aus Trauerdemonstrationen nach rechtsterroristischen Taten der letzten Jahrzehnte. Die Sammlung zeigt Kontinuitäten und Wandlungen des Kampfes gegen die rassistische Spaltung. Die Protestschilder fordern etwas ein, mahnen an und gehen solidarische Verbindungen ein. Gleichzeitig machen sie auf Missstände aufmerksam.