Als Projekt Offener Prozess bieten wir jedes Jahr eine Recherche- und Bildungsfahrt in eine Stadt an, die zum Tatort des NSU gemacht wurde, um neue Perspektiven für eine rassismuskritische und menschenrechtsorientierte Präventionsarbeit zu entdecken. Im Juni 2019 unternahmen wir die erste Reise mit 17 Teilnehmenden. Unsere Wahl fiel auf Dortmund, denn die Stadt bot mehrere spannende Anknüpfungspunkte. Zum einen den lokalen Umgang mit der Erinnerung an die Opfer des NSU und zum anderen die Städtepartnerschaft mit Zwickau. Zwischen Chemnitz und Dortmund zeigen sich außerdem einige Parallelen hinsichtlich der Mobilisierungserfolge der extremen Rechten. Die Reise thematisierte daher die Verbindungslinien zwischen Chemnitz, Zwickau und Dortmund und stand unter der Überschrift: „Von Dortmund lernen?!“
Ein umfangreiches und vielfältiges Programm erwartete uns. Innerhalb von vier Tagen trafen wir Akteur*innen aus verschiedenen Bereichen, die u.a. einen Einblick in die Aufarbeitung des NSU-Komplex und den Umgang mit neonazistischen Bestrebungen in Dortmund gaben.
Stadtrundgänge
In Stadtrundgängen näherten wir uns dem NSU-Komplex in Dortmund mit Blick auf die Tatorte und die Netzwerke der Täter*innen als auch mit Blick auf migrantisch situiertes Wissen und erinnerungskulturelle Aufarbeitung.
Für die Stadt Dortmund ist das Themenfeld Einwanderung und Migration Alltag und Normalität. Allein in der Nordstadt leben Menschen mit 60 unterschiedlichen Nationalitäten. Das Viertel ist ein Ort des Ankommens und wird auch als „Hafen“ bezeichnet. Positiv hervorzuheben ist, dass Neuankommenden und Menschen mit sogenanntem „Migrationshintergrund“ viele Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben eröffnet werden.
Der Sozialwissenschaftler Ali Şirin, der für den Planerladen Nord sowie das Jugendforum Nordstadt arbeitet, führte uns ein in die (post-)migrantischen Perspektiven auf den NSU-Komplex. Er verdeutlichte, dass „die Betroffenen“ rechtsmotivierter Gewalt keine einheitliche Gruppe sind und auch die Fragen nach dem Gedenken, der Aufarbeitung aber auch des Zusammenlebens nicht immer konfliktfrei ablaufen. Wir besuchten mit Ali Şirin sowohl Gedenk- und Erinnerungsorte an Mehmet Kubaşık und alle Opfer des NSU als auch spannende Projekte und Institutionen, wie die Mahn- und Gedenkstätte Steinwache, das Jugendzentrum Treffpunkt Stollenpark und das Kultur- und Bildungszentrum Dietrich-Keuning-Haus. Letzteres beindruckte uns mit seinem interdisziplinären Ansatz und schierer Größe: 27 Mitarbeitenden betreuen den Komplex, der viele Veranstaltungsräume für bis zu 800 Leute, Skate- und Sportanlagen sowie umfangreiche Möglichkeiten zur Gestaltung von Stadtteilarbeit bietet.
Der Stadtrundgang zeigte, dass das Gedenken an die Opfer des NSU und an Mehmet Kubaşık in Dortmund bereits sehr präsent und mit einer eindrucksvollen Selbstverständlichkeit einen festen Platz – sowohl räumlich als auch inhaltlich – in der Erinnerungskultur der Stadt hat. So existiert ein Gedenkort direkt am Tatort auf der Mallinckrodtstraße, der an Mehmet Kubaşık erinnert, sowie ein weiterer unweit des Hauptbahnhofes, der allen NSU-Opfern gewidmet ist. In der Zwischenzeit wurde zudem ein bis dato namenloser Platz am Tor zur zentralen Nordstadt-Geschäftsmeile, der Münsterstraße, in Mehmet-Kubaşık-Platz umbenannt.
Mit Alexandra Gerhardt, Sebastian Weiermann und Tim Mönch erkundeten wir die Dortmunder Nordstadt mit der Perspektive auf die Geschichte, die Akteure und die Orte rechter Gewalt in Dortmund. Sie erinnerten auch an weitere rechte Morde, wie den Mord an dem Punk Thomas Schulz am 28. März 2005. Es zeigte sich, dass es bis heute Verbindungen zwischen der extremen Rechten in Dortmund und Chemnitz gibt. Diese Kontinuitäten gilt es weiter aufzuarbeiten.
Gespräche und Vorträge
Die Quartiersdemokraten Dorstfeld luden uns in ihre Räumlichkeiten ein und wir bekamen einen spannenden Einblick in sozialarbeiterische Interventionen in einem Stadtteil mit starken Mobilisierungserfolgen von Rechts. Uns wurde jedoch deutlich, dass Dortmund Dorstfeld kein „Nazikiez“ ist. Vielmehr zeichnete sich ab, dass es eine ca. 100 Personen umfassende Neonaziclique in Dorstfeld gibt, die in dem 15.350 Einwohner*innen (Stand 2017) umfassenden Viertel sehr lautstark und mit einer starken Affinität zu öffentlichkeitswirksamen Aktionen und Medien Präsenz zeigt. Im Gegenzug fehle eine lautstarke und engagierte Zivilgesellschaft. Der Ansatz der Quartiersdemokraten richtet sich daher auch auf die Stärkung und Aktivierung der demokratischen Zivilgesellschaft im Stadtteil.
Mit Vertreter*innen von NSU Watch NRW sowie dem Wissenschaftler Hendrik Puls sprachen wir über die parlamentarische Aufarbeitung des Mords an Mehmet Kubaşık sowie den Sprengstoffanschlägen des NSU in der Kölner Keupstraße und der Probsteigasse. Der Untersuchungsausschuss in NRW hatte sich das Ziel gesetzt, die Aktivitäten der lokalen Neonaziszene von 1991 bis 2017 zu durchleuchten und auch Bezüge zu anderen rechen Straftaten wie dem Bombenanschlag in Düsseldorf-Wehrhahn zu prüfen. Ähnlich wie in vielen anderen Untersuchungsausschüssen, wurde die Betroffenenperspektive und deren Erfahrungen mit traumatisierender polizeilicher Ermittlungsarbeit nur unzureichend bearbeitet. Die Initiative NSU Watch NRW kritisierte zudem die mangelnde Umsetzung der Handlungsempfehlungen. Ein Problem, dass nicht spezifisch für NRW gilt, sondern bundesweit festzustellen ist.
Im Rathaus der Stadt Dortmund trafen wir Birgit Miemitz von der Koordinierungsstelle für Vielfalt, Toleranz und Demokratie, mit der wir die städtischen Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit Rechtspopulismus, der extremen Rechten und rechtem Terror diskutierten. Die Koordinierungsstelle beschrieb vor allem die strategische Intelligenz und Medienaffinät der neonazistischen Szene in Dortmund als Herausforderung. Wichtig sei auch eine realistische Lageeinschätzung: Da Dortmund als Anker- und Kumulationspunkt der rechten Szene in NRW gilt, wird das Thema auf höchster Ebene bearbeitet. So zeichnet die Stadt eine intensive und langfristige Zusammenarbeit zwischen Verwaltung, Polizei, Oberbürgermeister, Ordnungsamt und der Koordinierungsstelle aus. Die Arbeit der Koordinierungsstelle ist auf der Oberbürgermeisterbene im Rathaus angesiedelt und stellt ein wichtiges Scharnier zwischen den verschiedenen Akteuren dar.
Fußball
Dortmund ist auch die Stadt eines der erfolgreichsten Fußballvereine Deutschlands: Borussia Dortmund. Gleichzeitig war die Fanszene lange Zeit von einer rechten Hooliganszene dominiert, die aber über langfristig konzipierte Gegenstrategien schrittweise zurückgedrängt wurde. Dafür spielt Menschenrechtsbildung und rassismuskritische Bildungsarbeit eine wichtige Rolle, wie wir durch einen Vertreter des BVB Lernzentrums erfahren haben. Die Fanarbeit von Borussia Dortmund ist an langfristigen Strategien im Umgang mit Rechtsextremismus interessiert und leistet sowohl Streetwork und Präventionsarbeit, führt Gedenkstättenfahrten durch und im BVB Lernzentrum wird Bildungsarbeit mit Jugendlichen zu Themen wie Zivilcourage oder Interkulturelles Lernen geleistet. Es hat sich gezeigt, dass es langfristiger Ansätze bedarf und auch der BVB noch vor vielen Herausforderungen in dem Bereich steht. Besonders freuten wir uns, dass wir am Ende auch noch eine Stadionführung bekamen, und es zu einem Austausch zwischen dem Fanbeauftragten des Chemnitzer CFC und dem BVB Lernzentrum kam.
Ausstellungen
Eine Vielzahl von Ausstellungen ermöglichte uns einen Einblick in die künstlerische Aufarbeitung von Rechtspopulismus und Rechtem Terror. Ein Highlight war die Ausstellung „Der Alt-Right-Komplex“ wo wir unter anderem Werke und Arbeiten vom International Institute of Political Murder sowie unserer Kooperationspartnerinnen Paula Bulling und Anne König bewundern konnten.
Wir bedanken uns bei allen Kooperationspartner*innen, vor allem bei den Kolleg*innen der Auslandsgesellschaft, die uns ihre Räume zur Verfügung stellten. Wir kommen wieder!
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