Mehmet Turgut wurde am 25. Februar 2004 in Rostock in einer Imbissbude vom NSU am helllichten Tag hingerichtet. Bis heute sind zentrale Fragen wie die nach dem lokalen Unterstützungsnetzwerkes in Mecklenburg-Vorpommern ungeklärt. Die parlamentarische Aufarbeitung im bundesweit jüngsten Untersuchungsausschusses in Mecklenburg-Vorpommern kommt bislang nur schleppend voran.
Am 25. Februar 2019 fand in Rostock auf Einladung der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche gegen Rechtsextremismus die Gedenkveranstaltung „Ein Tag für Mehmet Turgut“ statt. Mit dem Programm zielten die Organisator*innen sowohl auf das Gedenken an den ermordeten Mehmet Turgut, als auch auf die Darstellung des momentanen Standes der Aufklärung seiner bereits 15 Jahre zurück liegenden Ermordung.
Dr. Wolfgang Nietsche, Organisator und Mitglied der Rostocker Bürgerschaft, betonte in seinem Grußwort, dass in den letzten Jahren am Todestag von Mehmet Turgut auch immer neonazistische Schmierereien des Gedenkortes aufgetaucht seien. Ebenso problematisiert er den Umgang des Bundeslandes mit rechtem Terror. Dieser sei nur als rechtes Randphänomen betrachtet worden. Das mittlerweile sichtbar gewordene Wissen über die bedrohlichen menschenverachtenden Einstellungen der sogenannten gesellschaftlichen Mitte sollten aufrütteln und den Kampf gegen Rechts als gesellschaftliche und politische Hauptaufgabe in den Fokus rücken. Nietsche betont ebenso die aktuellen Gefahren durch Reichsbürger und rechte Siedler*innen in Mecklenburg-Vorpommern sowie die Strategien der Neuen Rechten, die stärker auf eine kulturelle Vorherrschaft, als auf mörderischen Rechtsterrorismus zielen. Er betont in seinem Schlusswort noch einmal die Relevanz eines gesamtgesellschaftlichen Kampfes gegen Rechtsextremismus und die Notwendigkeit einer langfristigen Finanzierung von Opferberatungsstellen und der Arbeit gegen Rechts.
Marcus Wichert, Landeskirchlicher Beauftragter der Evangelischen Kirche in Norddeutschland, machte auf die Umstände des Lebens von Mehmet Turgut aufmerksam. Als junger Kurde versuchte Turgut über zehn Jahre in Deutschland eine neue Heimat zu finden, um den Konflikten in seinem Herkunftsland zu entfliehen und bei seiner bereits in Deutschland lebenden Familie sein zu können. Über zehn Jahre wurde sein Asylgesuch jedoch immer wieder abgelehnt, er wurde mehrmals abgeschoben und kam doch immer wieder zurück. Seine Ermordung hatte eine mehrjährige Verdächtigung der Angehörigen zur Folge, die Mörder*innen wurden durch die Polizei im Umfeld des Opfers gesucht. Wichert verweist dabei auf das sichtbar gewordene Phänomen des institutionellen Rassismus und ruft zu einem Eintreten für eine offene und demokratische Gesellschaft auf.
Die Rostocker Initiative „Mord verjährt nicht“ bezeichnet die Veranstaltung als einen würdigen Rahmen, zu dem nun auch die Angehörigen der NSU-Mordopfer erscheinen. Im Rückblick auf den Prozess der Erinnerungskultur in Rostock an Mehmet Turgut erwähnt die Initiative noch einmal, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, dass die Stadt und die Initiative gemeinsam das Gedenken ausrichten. In den ersten zwei Jahren nach der Selbstenttarnung des NSU machten antifaschistische Gruppen mit selbstgebastelten Gedenkplaketten auf die unaufgeklärten Todesumstände von Mehmet Turgut aufmerksam. Am 20. Jahrestag der Brandanschläge in Rostock-Lichtenhagen 1992 wurde bei der staatlichen Gedenkveranstaltung ein Bogen zum NSU-Mord gezogen und die AG Gedenken der Bürgerschaft gegründet. Der Forderung nach einem würdigen Gedenken wurde dann im Februar 2012 in Form der Gedenkbänke an Mehmet Turgut in Rostock entsprochen. Aus Sicht der Initiative fehlte jedoch weiterhin die Thematisierung von Rassismus und den Todesumständen durch den rechten NSU-Terror. Seit 2012 steht ebenfalls die Benennung des Neudierkower Weg in Mehmet-Turgut-Straße auf der Agenda der Initiative. Diese Forderung scheiterte jedoch bislang am Ortsbeirat des Stadtteils.
Ob das Gedenken an Mehmet Turgut im kommenden Jahr in der Mehmet-Turgut-Straße stattfinden wird, hängt vom Ortsbeirat der Stadt Rostock ab.
Im Gespräch mit Caro Keller von NSU Watch verdeutlichte der Journalist Dirk Laabs die Kontinuitäten rechter Gewalt in Deutschland. Trotz einer langen Geschichte rechten Terrors könnten sich Menschen in Deutschland rechte Morde nie vorstellen, obwohl sie ständig passieren. Beispielhaft steht dafür, so betont Laabs, der Mord an Enver Simsek. Noch einige Tage und Wochen zuvor gab es in Deutschland eine mediale Diskussion zu rechter Gewalt mit Sondersendungen im Fernsehen. Dann geschah der Mord und niemand erwog ein rassistisches Tatmotiv. Die Kontinuitäten rechten Terrors müssten dringend aufgearbeitet werden. Laabs verweist dabei auch auf die Behörden und staatlichen Institutionen. So problematisiert er, dass der Verfassungsschutz nie auf die Zerschlagung der rechten Szene gezielt hat, sondern auf das Generieren von Wissen über rechte Gruppen. Dabei gibt es im Falle des Rostocker NSU-Mordes zahlreiche Anhaltspunkte dafür, dass der mordende NSU lokale Helfer*innen gehabt haben muss. So hatten Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos starke Freundschaften in Rostock, u.a. zu einem Neonazi, dessen Wohnort in unmittelbarer Nähe zum Tatort lag. Der Tatort, ein Imbiss, war zwar abgelegen, jedoch komplett umstellt von Plattenbauten und sehr öffentlich sichtbar platziert. Ein solches öffentliches Morden sollte eine Machtdemonstration sein, so Laabs. Böhnhardt hatte zudem Verwandtschaft in der Umgebung von Rostock. Zum Zeitpunkt des Besitzer*innenwechsels innerhalb des Imbisses, welcher fortan von einer migrantisch wahrgenommen Person geleitet wurde, war das Trio zu Besuch in Rostock. Dieser Spur wurde jedoch seitens der Ermittlungsbehörden nie nachgegangen. Grund dafür war unter anderem, dass die Ermittler*innen mit Informant*innen aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität arbeiteten. Laabs thematisiert, dass eine gezielte Beeinflussung dieser Informanten auf die polizeiliche Ermittlungsrichtung gab. Daraus entwickelte sich eine selbsterfüllende Prophezeiung, denn tatsächlich gab es im Umfeld des Opfers Bezüge zur Organisierten Kriminalität. Gleichzeitig lässt sich aus heutiger Perspektive auch die Bedeutung eines institutionellen Rassismus nachzeichnen. So kamen die Ermittler*innen nach dem ersten NSU-Mord an Enver Simsek zu dem Schluss, dass aufgrund der öffentlichen Hinrichtung am helllichten Tag eine starke emotionale Motivation vorliegen müsse. Die Schlussfolgerung war jedoch, dass der/die Täter*in aus einem anderen „Kulturkreis“ kommen müsse. Laabs plädierte außerdem für eine Fehlerkultur im Verfassungsschutz. Stattdessen wurden in den Untersuchungsausschüssen durch Zeug*innen des Verfassungsschutzes gelogen und Absprachen über Aussagen getroffen. zuvor Absprache gehalten.
Im Anschluss an das Gespräch mit Dirk Laabs trafen einige Angehörige und Familien der durch den NSU ermordeten Menschen ein. Auf dem Podium kamen moderiert von Heike Kleffner Mehmet Turguts Cousin Saabettin Turgut, Ibrahim Arslan – Überlebender des Möllner Brandanschlages von 1992, Abdulkerim Şimşek – Sohn des ermordeten Enver Şimşek– und Candan Özer – Witwe des verstorbenen Attila Özer zu Wort.
Saabettin Turgut berichtete, dass es der Familie in der Türkei sehr schlecht gehen würde. Sie hätten kaum Informationen zu den bisherigen Aufklärungsergebnissen bekommen und seien über Jahre selbst verdächtigt und wiederholt befragt worden. Er selbst sei acht mal polizeilich befragt worden. Gleichzeitig wurde seiner Forderung nach Akteneinsicht nie nachgekommen. Er fordert, dass es endlich eine Verurteilung aller Täter*innen geben solle. Ein Mitarbeiter der CDU-Abgeordneten Barbara John ergänzt, dass die Polizei auch immer wieder gegen Yunus Turgut, den Bruder vom Mehmet Turgut, ermittelt habe und in Folge dessen 19 Tage ins Gefängnis in Ankara gebracht wurde. Die Folgen waren eine starke soziale Isolation, denn in dem Dorf in der Türkei, in dem er lebte, fielen die ständigen Interpol und Polizeibesuche auf und machten ihn verdächtig, sodass er sich einen anderen Wohnort suchen musste. Psychisch sei er irgendwann so am Ende gewesen, dass er kurz davor gewesen sei, einfach zu behaupten er habe seinen Bruder umgebracht, um endlich in Ruhe gelassen zu werden.
Abdulkerim Şimşek, Sohn des ersten NSU-Mordopfers, schildert, wie seine Familie über Jahre auch vor Gericht für Aufklärung gekämpft habe. Das Urteil habe ihn und seine Familie jedoch so sehr erschüttert, dass er eigentlich nie wieder öffentlich reden wollte, aus Solidarität zur Familie Turgut jedoch schließlich nach Rostock gekommen sei. Er betont, dass Gedenkveranstaltungen für ihn sehr wichtig seien,da es Anlässe seien, bei denen die Familien zusammenkommen würden. Die neuen Bedrohungen seiner Anwältin Seda Başay-Yıldız durch eine Gruppierung namens „NSU 2.0“ würden ihn ebenfalls sehr mitnehmen, die Anwältin sei mittlerweile wie eine Schwester und Teil der Familie geworden.
Candan Özer hat im Jahr 2017 ihren Mann, der Opfer des Nagelbombenattentates in der Kölner Keupstraße wurde, an den Spätfolgen des Traumas verloren. Ihr Mann, so schildert sie, sei an starken Depressionen erkrankt, eine Folge des Attentates, aber auch der rassistischen Ermittlungen gegen die Bewohner*innen der Keupstraße. Sie erinnert sich, dass ihr Mann die ersten zwölf Stunden nach dem Anschlag trotz zweier Nägel in seinem Körper keinen Zugang zu medizinischer Hilfe erhalten habe. Stattdessen wurde er stundenlang polizeilich verhört. Darauf folgten immer wieder Verdächtigungen und Ermittlungen gegen die Familie. Die Resignation von Candan Özer wird stark deutlich, statt der zahlreichen Einladungen der Angehörigen nach Berlin und einem Mittagessen mit Merkel hätte sie sich eine verstärkte Förderung von Opferberatungsstellen gewünscht. Sie stellt immer wieder die Frage in den Raum, wie sie ihrem Sohn erziehen soll, ohne dass er selbst einen Hass auf Deutschland entwickelt. Frau Özer kommt auch auf die skrupellosen Ermittlungsmethoden der Polizeibeamten zu sprechen. So sei ihr erzählt worden, ihr Mann habe sie betrogen. Die Folgen der jahrelangen faschen Verdächtigungen hätten ihre Familie zerstört.
Ibrahim Arslan, Überlebender des Brandanschlags in Mölln im Jahr 1992, der selbst Teile seiner Familie in den Flammen verloren hat und weiterhin unter den Folgen des Traumas leidet, begleitet seit acht Jahren die Angehörigen der NSU-Mordopfer. Sein Anliegen ist dabei, dass die Betroffenen die Hauptzeugen des Geschehens bleiben. Er fordert, dass die Geschichten der Betroffen endlich mehr Raum bekommen und die Gesellschaft ihnen zuhöre. Wenn er in Schulklassen Seminare und Workshops gibt, dann kennen alle den Namen von Beate Zschäpe, niemand jedoch kennt die Namen der Ermordeten und ihre Geschichten. „Die Betroffenen müssen in den Vordergrund gestellt werden, sie müssen ihre Geschichten erzählen können. Wir sind die Hauptzeugen des Geschehens, nicht nur Statisten.“ Seine Vision ist, dass anhand der Geschichten der Betroffenen die Gesellschaft verändert werden kann. Aus seiner Perspektive muss eine Solidarität mit den Betroffenen den Kampf für Entschädigungen in den Fokus rücken. Über eine respektvolle Form des Gedenkens sollten jedoch die Angehörigen in erster Linie entscheiden. Daneben bedarf es auch „weitere Barbara Johns“ (Ombusfrauen/-männer) für alle weiteren Betroffenen und Opfer rechten Terrors.
Im Anschluss an die Podiumsdiskussion hielt Andrea Röpke, investigative Journalistin und Expertin für die Extreme Rechte, einen Vortrag zu den Verbindungen des NSU-Kerntrios zur mecklenburgischen militanten Neonaziszene. Zum einen waren Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt mehrfach in Mecklenburg-Vorpommern um dort Urlaub zu machen. Bereits Anfang der 1990er Jahre verbrachten sie eine längere Zeit auf einem Campingplatz in Krakow am See, wo sie in Kontakt kamen mit der lokalen Naziszene. 1995 schwärmte Mundlos über einen Waffenladen in Rostock, 1998 tauchten in dem Spiel „Pogromly“ die Städtenamen Güstrow und Schwerin auf. Im Jahr 2000 kam es zu einem Urlaub in Lubmin und 2004 war bereits der Mord an Mehmet Turgut in Rostock, 2006 und 2007 dann die Banküberfälle in Stralsund. Im Mai 2011 machten sie ihren letzten Urlaub auf Rügen. Zeitgleich fand ein Fest des „Kameradschaftsbund Anklam“ (KBA) in Anklam statt, an dem auch André Eminger teilnahm. 2014 tauchte bundesweit die NSU/NSDAP-CD – die 2011 von V-Mann Corelli erstellt wurde – u.a. in Krakow am See auf. Bis heute zeigt sich ein hochkonspirativer Szenekontakt zwischen der Chemnitzer Neonazisszene und der militanten Rechten in Anklam. Röpke verwies auf zahlreiche Kontakte zur Kameradschaft Anklam, dem Blood&Honour Umfeld in Mecklenburg-Vorpommern, nach Lingen zur Band „Gigi und die braunen Stadtmusikanten“ und den Gründern des Fanzines Weißer Wolf wie David Petereit. Zentraler Dreh- und Angelpunkt der Kontakte nach Mecklenburg-Vorpommern stellt die Spende des NSU an das Fanzine „Weißer Wolf“ dar und der schriftliche Dank an den NSU, welcher dank Recherchen des Apabiz bekannt wurde. Andrea Röpke schloss ihren Vortrag mit der erschreckenden Zahl von 92 bekannt gewordenen rechten Terrorgruppen seit 1963.
Zuletzt diskutierten auf dem Podium die Vertreter des mecklenburgischen NSU-Untersuchungsausschusses Peter Ritter ( Die Linke) und Julian Barlen (SPD) zusammen mit dem Vertreter des Migrantenbeirates und Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Juri Rosov und Ibrahim Arslan. Die Perspektiven auf den Untersuchungsausschuss waren sehr ernüchternd, bislang wurden Aufklärungsbemühungen stark beeinträchtigt und das Innenministerium gewährte kaum Akteneinsicht. Die Initative NSU Watch sieht jedoch den jetztigen Untersuchungsausschuss als letze Chance für eine parlamentarische Aufklärung des Mordes an Mehmet Turgut. Auch Heike Kleffner betont, dass die Recherchen von Andrea Röpke Anlass genug sein müssten, damit es im NSU-Untersuchungsausschuss Mecklenburg-Vorpommern endlich zu Arbeitsfortschritten kommt. Ergänzend an die mangelnden Aufklärungs- und Arbeitserfolge des Untersuchungsausschusses stellt auch Juri Rosov fest, dass an einem gesamtgesellschaftlichen Willen an Aufarbeitung rechter Gewalt fehle. Als Beispiel nennt er die zahlreichen monatlichen antisemitischen Friedhofsschändungen, die in Deutschland keinerlei Konsequenzen und keinen gesellschaftlichen Aufschrei erzeugen. Ibrahim Arslan beendet die Diskussion mit der Aussage, dass die Konsequenz aus dem NSU-Komplex sein müsse, dass in jedem Fall von Gewalt gegen Migrant*innen immer zuerst ein rechtes Tatmotiv in Betracht gezogen werden solle. Nie wieder dürfe es dazu kommen, dass diese Option völlig ausgeklammert werden würde.
Der Tag für Mehmet Turgut endet im Neudierkower Weg, am Tatort des Mordes und heutigem Gedenkort an Mehmet Turgut. Die Initiative „Mord verjährt nicht“, Wolfgang Nietsche aus der Rostocker Bürgerschaft, die Vizepräsidentin des deutschen Bundestages Petra Pau, Ibrahim Arslan, Candan Özer sowie ein Angehöriger von Michele Kiesewetter hielten Gedenkworte. Ca. 100 Menschen nahmen an dem Gedenken gemeinsam mit den Angehörigen teil. Es war ein würdiger Abschluss des Tages für Mehmet Turgut.
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